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200 m und danach

Ein Beitrag von Andreas Z.

Hartmut Rosa hat das Konzept der Resonanz entwickelt: Diese ereignet sich dann, wenn Menschen von der Welt erreicht, berührt, bewegt werden, weil sie in der Welt sind und nicht in Gedanken. Die Freude über die erste Schwalbe im Frühjahr ist ein solches Erlebnis, sie verheißt den Sommer mitsamt seiner Leichtigkeit und gehört zu den Symbolen, die einfach alle verstehen.

 

In seinem neuen Buch widmet sich Hartmut Rosa der Unverfügbarkeit als einer der Voraussetzungen für das Erleben von Resonanz, und diese hat viel mit Naturbeobachtung zu tun; der Reiz bei der Beobachtung von wilden Tieren, und das schließt den Zitronenfalter natürlich ein, liegt ja darin, daß wir nicht wissen, was uns erwartet – „es ist ja kein Zoo“ heißt es gerne, wenn der erhoffte Kernbeißer im Stadtpark nicht angetroffen wird.

 

Im dritten Kapitel beschreibt Rosa das rätselhafte Zurückweichen der Welt: Unsere zunehmenden Anstrengungen, die Welt mittels Wissenschaft & Technik, Verwaltung & Wirtschaft verfügbar zu machen, kann zu dem Paradox führen, daß wir gar nichts mehr erleben – gerne erinnere ich mich an die Kreuzfahrt von Schwiegervater, endlich wurden sie in einem kleinen karibischen Hafen angelandet, um dann umgeben von Sicherheitspersonal auf dem lokalen Markt den angebotenen Tand anzuglotzen – das kenne ich doch von zu Hause! Freier Landgang war nicht vorgesehen, denn die Sicherheit der Kreuzfahrer war prioritär und so blieb jedes bißchen Erfahrung mit ein wenig Fremdheit aus. 

 

Mit offenen Augen durch die Welt gehen, die Welt nicht zu mißbilligen und geringschätzen, ist aus gutem Grund ein geflügeltes Wort, und als Haltung eine Voraussetzung dafür, daß wir Erlebnissen begegnen. Leuchtende Augen oder Gänsehaut stellen sich ein, wenn wir es nicht erwartet haben; wenn plötzlich die erste Hummel des Jahres auf einer frühen Blüte sitzt oder wir beim Blick aus dem Bürofenster einen Seeadler vorübersegeln sehen. Dieser Widerhall, der immer auch eine Veränderung in uns bewirkt, ist nicht käuflich zu erwerben und schon gar nicht mit Garantie zu erleben; so führt uns jede Sehnsucht nach Beziehung zu den Dingen in der Welt, die der Kapitalismus in ein Begehren nach Objekten verwandelt, in das Risiko, daß wir angereichert mit käuflichen Dingen, doch ohne Beziehung zur Welt, ausgelaugt und erschöpft zurückbleiben.

 

Resonanz kann sich einstellen, so eine Erkenntnis von Rosa, wenn wir die Dinge nicht feststellen, sondern in Bewegung belassen; unvergessen bleibt mir der Anblick der untergehenden Sonne in der Bretagne, ich spüre noch jetzt die Hand der Liebsten in meiner Hand, und keines der Dutzenden Fotos, die um uns herum geschossen wurden, könnte diese Erinnerung wachrufen. Da wäre nur ein Achja, Urlaub!

 

Eine weitere Bedingung besteht darin, daß wir ein Interesse an den Dingen bewahren, daß wir nicht fertig sind mit ihnen, so wie Fußballfans auch nach der siebten Niederlage ihren Verein nicht aufgeben und nach dem Abstieg erst recht nicht, so unverständlich das auch sein mag. Solange wir immer noch etwas zu lernen, zu verstehen, zu begreifen haben, bleiben wir offen für das Unerwartbare, solange kann die Unverfügbarkeit der Dinge für uns eine Überraschung bereithalten.

 

Im siebten Kapitel untersucht Rosa das Wechselspiel zwischen Begehren und Unverfügbarkeit. Begehren, oder auch Lust nicht nur im erotischen Sinne, ist kaum willentlich zu lenken, es überfällt uns geradezu immer wieder auch in den unmöglichsten Momenten – und bleibt damit unverfügbar. Und der Versuch, die Lust einzuschalten, führt häufig zu frustrierenden Verkantungen, denn keine Anstrengung kann uns geben, was die Muße uns zu schenken vermag.

Das ganze Elend im Großformat: Wer im Alltag nicht mehr berührt wird, bekommt hier eine Garantie – und das Transportunternehmen pudert seinen Beitrag zur Erhitzung des Planeten mit einem verkommenen Totalanspruch auf das Ja zur Welt. Wer nicht fliegt und sie zerstört, der liebt sie nicht.

 

Auch der moderne ständige Zwang zur Optimierung des eigenen Körpers und Geistes beispielsweise kann dazu führen, daß wir den Spielraum verlieren, um uns auf neue Erfahrungen einzulassen. Mein Leben nun ist nicht sehr hoch durchgetaktet, ich lege Wert auf einen wöchentlichen Sabbat – einen Tag der Ruhe und Rückschau, einen Tag, den ich den Genüssen widme und auch der Langeweile als der Zeitebene, auf der ich unmotiviert ein Buch aus dem Regal ziehe und mir dann beim Lesen plötzlich Ideen zufallen.

 

Politisch wiederum führen Bürokratie und das vermeintliche Streben nach Gerechtigkeit dazu, daß wir völlig durchreguliert kaum noch zu spontanen Bewegungen in der Lage sind, geschweige denn einen Impuls verspüren, einer abweichenden Meinung Gehör zu schenken – unsere Aufmerksamkeit in ihrer Zartheit steht unter Dauerbeschuss der Rohlinge.

 

Auf 133 Seiten erläutert Hartmut Rosa, warum unsere Sehnsucht nach Resonanz häufig scheitert und wie sie trotz der Unterjochung der Welt und ihrer zunehmenden Verstummtheit weiterhin möglich ist. Sehr empfehlenswert!

 

Unverfügbarkeit von Hartmut Rosa, Residenz Verlag Wien – Salzburg, 2018, 20 Euro

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